Berufsbildung 2030 – Vision und strategische Leitlinien: Stärken und Schwächen

Das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) hat alle Interessieren aufgerufen, am Strategieprozess Berufsbildung2030 mitzuwirken. Aktuell sind die Interessieren aufgefordert, Stärken und Schwächen der Berufsbildung in der Schweiz zu formulieren. An dieser Stelle formuliere ich je zwei Stärken und Schwächen, die zu selten diskutiert werden.

Das Berufsbildungssystem in der Schweiz weist sehr viele Stärken aber auch einige Schwächen auf. Von den Stärken zeugen nicht nur die hohe Partizipation der Jugendlichen und Unternehmen, sondern auch die Erfolge bei den Berufsweltmeisterschaften, die tiefe Jugendarbeitslosigkeit oder international hervorragende Reputation. Oft genannte Schwächen des Berufsbildungssystems sind hingegen die Matchingprobleme auf dem Lehrstellenmarkt, der drohende Attraktivitätsverlust der Berufslehren oder das schwindende Wissen um die Stärken der Berufsbildung bei Eltern und (internationalen) Unternehmen. Im Rahmen der Strategieentwicklung lohnt es sich aus meiner Sicht, weitere, in der Öffentlichkeit weniger diskutierte Stärken und Schwächen zu betrachten und auch diese Argumente zu diskutieren. Ich beschränke mich hier auf zwei Stärken und zwei Schwächen, die aus meiner Sicht, zu wenig Beachtung finden.

Anreize, die zu Leistung anspornen

Eine grosse Stärke des Berufsbildungssystems in der Schweiz ist dieihr inhärente Anreizstruktur, für alle Lernenden die individuell beste Leistung zu erbringen. Jugendliche können Berufe erlernen, die sie entsprechend ihren (handwerklichen, kognitiven, persönlichen) Fähigkeiten und Möglichkeiten fordern und entsprechend fördern. Mit dem Grundsatz „kein Abschluss ohne Anschluss“ wirkt die Anreizstruktur hohe Leistungen zu erbringen, auch über die berufliche Grundbildung hinaus. Im Unterschied zu den Ländern ohne Berufsbildungssystem zahlt es sich für Jugendliche aus, sich anzustrengen und einen individuellen Karriereweg über die berufliche Grundbildung, die höhere Berufsbildung oder die Fachhochschule bzw. der Universität zu verfolgen.

Soziale Sicherheit erhöht die Investitionen in das Berufsbildungs-Humankapital

Das Berufsbildungssystem ist in ein stabiles institutionelles Setting eingebettet (insbesondere das Sozialversicherungssystem), das die Risiken der Investitionen in die individuelle berufliche Grundbildung reduziert. Dies ist eine der grossen Stärken der Berufsbildung in der Schweiz. Ohne eine ausreichend verlässliche soziale Sicherheit, würden die Investitionen in die Berufsbildung unattraktiver und der allgemeinbildende Weg sicherer. Denn je näher Kompetenzen an einer spezifischen beruflichen Praxis liegen, umso anfälliger ist ihre Nachfrage bei strukturellen und konjunkturellen Veränderungen. Investitionen in berufsspezifische Kompetenzen sind also nur dann attraktiv, wenn ein Rückgang der Nachfrage nach diesen Kompetenzen sozial abgesichert werden (vgl. Estevez-Abe et al., 2001).

Flucht in die nationale Idealisierung

Eine grosse Schwäre des Berufsbildungssystems sehe ich in ihrer „Flucht in die nationale Idealisierung“. In der Diskussion um die Berufsbildung wird zu oft das Faktum ignoriert, dass die mit dem meritokratischen Prinzip legitimierte Selektion an der (ersten) Schwelle zur Sekundarstufe II eine erwünschte soziale Ungleichheit mit einem Unten und einem Oben zur Folge hat. Wer die Leistungsselektion schafft, darf ans Gymnasium, wer sie nicht schafft, ist nicht zugelassen. Allen Jugendlichen hingegen steht grundsätzlich der „selektionsfreie“ Zugang in die berufliche Grundbildung offen. Würde die Berufsbildung mit mehr Selbstvertrauen diesem Faktum begegnen, hätte sie auch Kapazität, innovativ zu sein. Kurz: Die grosse Schwäre ist, dass die „Flucht in die nationale Idealisierung“ die so notwendigen Innovationen dämpfen.

Professionsentwicklung bei den Berufsbildungsverantwortlichen

Das grosse nicht ausgeschöpfte Potential in der Berufsbildung liegt in der Professionsentwicklung der Berufsbildungsverantwortlichen. Mit der Ausbildung zur/zum Berufsfachschullehrer/in oder zum/zur Berufsbildner/in ist eine wichtige Grundlage der Professionsentwicklung gelegt. Die eigentliche Professionsentwicklung (vom Novize / von der Novizin zum/zur Experten/in) setzt jedoch erst anschliessend ein. In einem iterativen Prozess von individueller Erfahrung als Berufsbildungsverantwortliche/r und organisierter und wissenschaftlich fundierter Weiterentwicklung sollten die Berufsbildungsverantwortlichen ihre Professionsentwicklung vorantreiben. Die Notwendigkeit der Professionsentwicklung wird deutlich, wenn die Herausforderungen der Berufsbildungsverantwortlichen betrachtet werden. Es sind dies beispielsweise die zunehmende Diversität der Lernenden, die zunehmenden Anforderungen in den Berufen, die zunehmende Komplexität der Technologien und Organisationen, die zunehmenden Ansprüche der Jugendlichen und die zunehmenden Versuchungen sich anderem als der Berufsbildung zu widmen.

Die Diskussion geht weiter

Die Diskussion über die Stärken und Schwächen der Berufsbildung läuft bis noch bin zum 10. Januar 2017. Sie können hier noch immer partizipieren und die Stärken und Schwächen, die Sie sehen, öffentlich machen. Die Ergebnisse fliessen gemäss SBFI in die darauffolgenden zweiten Expertenworkshops ein.

Prof. Dr. Jürg H. Arpagaus, Prorektor, PH Luzern

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