Begriffe und Definitionen sind kontext- und theoriegebunden

Klärungen zentraler Begriffe eines Themas im Unterricht, in Unterrichtsmaterialien oder in Diplom- und Masterarbeiten sind wichtig, um ein fundiertes inhaltliches Verständnis zu erlangen. Denn je nach Kontext im alltagssprachlichen Gebrauch, nach Professionskontext oder nach Herkunftstheorie in der wissenschaftlichen Verwendung können Begriffe eine völlig andere Bedeutung haben.

In den Diskussionen mit Studierenden fällt mir immer wieder auf, wie Begriffe aus dem alltagssprachlichen  unhinterfragt in den wissenschaftlichen Kontext übertragen werden und daraus erhebliche Missverständnisse resultieren können. So wird etwa der Begriff ‚Motivation‘ meist so verstanden, dass jemand etwas gerne und mit Engagement tut, im wissenschaftlichen Sprachgebrauch bedeutet ‚Motivation‘ jedoch, dass eine Verhaltensbereitschaft dazu besteht, etwas zu tun oder zu meiden. Dabei ist unerheblich, ob dies nun gerne oder widerwillig, freiwillig oder unter Zwang geschieht. So definiert Rheinberg aus kognitionspsychologischer Sicht den Begriff ‚Motivation‘  als „die aktivierende Ausrichtung des momentanen Lebensvollzuges auf einen positiv bewerteten Zielzustand“ (1997, S. 14).

Für begriffliche Klärungen stehen Definitionen zur Verfügung. Doch das allein genügt nicht. Sie müssen auch in Bezug zum verwendeten Theoriehintergrund gestellt werden, für den sie Gültigkeit haben. Ansonsten können sie in die Irre führen. Dies gilt nicht nur für den wissenschaftlichen Kontext, sondern auch für jeden Beruf. Jede Profession hat ihre Professionssprache, die Begriffsverwendung in einem bestimmten beruflichen Kontext unterscheidet sich vom Gebrauch in einem anderen Beruf sowie vom alltagssprachlichen Kontext. So wird etwa der Begriff ‚Prozess‘ von Pflegefachpersonen, Juristen, Psychologen oder Technikern unterschiedlich verstanden und auch in der Profession selbst durch den Kontext bedingt, für den der Begriff verwendet wird. Geklärt werden muss jeweils die Frage: Welche Bedeutung hat der Begriff in welchem Kontext, für welchen Bezugsrahmen ist das Begriffsverständnis gültig, auf welchem Theoriehintergrund basiert die Definition?

 

Ein Beispiel: Wofür ist die Definition Lernen = Verhaltensänderung gültig?

In den Lehrbüchern zum Lernen und Lehren wird die Lerndefinition von Bower und Hilgard aufgeführt, welche aus dem behavioristischen Forschungsfeld stammt und 1948 erstmals publiziert wurde. Sie lautet: „<Lernen> bezieht sich auf die Veränderung im Verhalten oder im Verhaltenspotential eines Organismus hinsichtlich einer bestimmten Situation, die durch wiederholte Erfahrung des Organismus in dieser Situation zurückgeht, vorausgesetzt, dass diese Verhaltensänderung nicht auf angeborene Reaktionstendenzen, Reifung, oder vorübergehende Zustände (wie etwa Müdigkeit, Trunkenheit, Triebzustände usw.) zurückgeführt werden kann.“ (1983, S. 31).

Diese Lerndefinition wird immer wieder als „klassisch“ bezeichnet und generalisierend für alle Lernbereiche verwendet. Sie hat das Lern- und Lehrverständnis von Generationen von Lehrpersonen geprägt. Das Pikante daran: Sie hat für das schulische Lernen nur geringe Relevanz, da sie Sprache ausschliesst. Und Sprache hat für das organisierte Lernen zentrale Bedeutung.

Was in keinem der mir bekannten Lehrbücher aufgeführt wird, ist der Gültigkeitsbereich dieser Definition. Sie wird zwar jeweils korrekt zitiert, aber ohne auf den von den Autoren klar eingegrenzten Bereich hinzuweisen, für den diese Definition Gültigkeit beansprucht. Siehe z.B. Gudjons, S. 219.

Hilgard und Bower (1983, S. 31) grenzen in ihrem Grundlagenwerk „Theorien des Lernens“ den Gültigkeitsbereich im Kapitel „Eine mögliche Definition des Lernens“ wie folgt ein: „Um nun zu unserem Anfangsproblem der Charakterisierung von <Lernen> zurückzukehren: Experimentatoren, die mit Tieren oder mit Menschen ohne Sprache arbeiten, brauchen eine Arbeitsdefinition von <Lernen>, die ohne verbale Instruktion, verbale Fragen und verbale Antworten auskommt. Offensichtlich müssen sie sich auf ein beobachtbares Verhalten des untersuchten Organismus konzentrieren, von dem angenommen werden kann, dass es spezifisches Lernen anzeigt. Die Formulierung einer solchen Definition ist schwierig, aber eine brauchbare Formulierung ist die folgende: …“ (siehe obige Definition).

Damit beschränkt sich diese Definition des Lernens, welche häufig unzutreffend für alle Lebensbereiche generalisiert wird, beim menschlichen Lernen auf einen sehr begrenzten Lernbereich, wie etwa auf nichtsprachliche Erziehung oder das Lernen am Modell. Für die meisten Bereiche des Lernens an Schulen hat diese Definition damit nur eine geringe Gültigkeit und Relevanz. Lernen muss keineswegs im Verhalten sichtbar werden – dass Lernen auch sichtbare Wirkung zeigen sollte, steht auf einem anderen Blatt und ist hier nicht Thema.

 

Fünf Regeln für Begriffsklärungen

Begriffe und Definitionen sind theorie- und kontextgebunden, wie dieses illustrierende Beispiel zeigt. Für begriffliche Klärungen können die folgenden fünf Regeln hilfreich sein:

  • Alltagsprachlichen Begriffsgebrauch von theoriegebundenen Verwendungen unterscheiden.
  • Definitionen nicht verallgemeinern, sondern für den Kontext verwenden, für den sie formuliert wurden.
  • Definitionen nicht als ‚Wahrheiten‘, sondern als Konventionen verstehen.
  • Die Quellen transparent und rasch auffindbar angeben.
  • Originalquellen statt Sekundärliteratur verwenden.

In unseren Studiengängen der Berufs- und Erwachsenenbildung ist uns ein Anliegen, dass  mit Definitionen und Begriffsverwendungen sorgfältig umgegangen wird und die Quellen transparent  aufgezeigt werden.

 

Literaturverzeichnis

Bower, G.H.& Hilgard, E.R. (1983). Theorien des Lernens. Band 2. Stuttgart: Klett-Cotta.

Gudjons, H. (2012). Pädagogisches Grundwissen. Bad Heilbrunn: Klinkhard. http://www.ph-karlsruhe.de/uploads/media/Leseprobe_Gudjons_Traub_2012_Lernen.pdf (abgerufen am 28.10.2015).

Rheinberg, F. (1997). Motivation (2. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer.

 

Donatus Berlinger, Leiter Abteilung Erwachsenenbildung, PH Luzern

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