Qualifikationspotentiale ausschöpfen – Berufsabschluss für Erwachsene

In der Schweiz ist ein nachobligatorischer Bildungsabschluss auf der Sekundarstufe II die Regel. Dennoch leben in der Schweiz viele Erwerbstätige ohne Sek-II-Abschluss, was mit einem tieferen Einkommen, höherem Arbeitslosenrisiko, geringerer Partizipation an Weiterbildung usw. verbunden ist. Es ist sowohl aus individueller wie auch aus gesellschaftlicher und volkswirtschaftlicher Sicht wünschenswert, dass auch Erwachsene ohne Sek-II-Abschluss einen Berufsabschluss erwerben können. Markus Maurer, Emil Wettstein und Helena Neuhaus haben sich dem Thema Berufsabschluss für Erwachsene in der Schweiz angenommen und eine lesenswerte Bestandesaufnahme verfasst.

Maurer Markus, E. Wettstein und H. Neuhaus (2016): Berufsabschluss für Erwachsene in der Schweiz. Bestandesaufnahme und Blick nach vorn. Bern: hep praxis.

Rund eine halbe Million Erwachsene im Alter zwischen 25 und 65 verfügen in der Schweiz über keinen nachobligatorischen Bildungsabschluss. Das Schweizer Bildungssystem bietet diesen Erwachsenen verschiedene Möglichkeiten, einen Berufsbildungsabschluss zu erwerben. Die Autoren Maurer, Wettstein und Neuhaus werfen mit ihrer Publikation erstmals einen umfassenden und systematischen Blick auf den Berufsabschluss für Erwachsene in der Schweiz. Ihre Publikation stellt die Relevanz des Themas sowie die aktuelle Situation hierzulande dar. Die Autoren gehen vertieft auf die vier Wege ein, die Erwachsenen zur Erreichung eines Berufsabschlusses offen stehen. Mit der Darstellung mehrerer konkreter Angebote in verschiedenen Kantonen sowie den äquivalenten Systemen in Deutschland, Österreich, Frankreich und Schweden werden die praktischen Herausforderungen und Grenzen der Verfahren sichtbar. Schliesslich formulieren die Autoren eine «Vision» unter der Bezeichnung «Modell 2025», woraus sie konkrete Handlungsempfehlungen ableiten.

Die Publikation gliedert sich in die vier Hauptteile «Grundlagen», «Aktuelle Situation in der Schweiz», «Berufsbildung für Erwachsene in ausgewählten Staaten Europas» und «Auf dem Weg zu einer erwachsenengerechten Berufsbildung» mit elf Kapiteln und sechs eingeflochtenen Exkursen. Das Buch richtet sich dank der anschaulich gehaltenen Sprache, wichtigen Wiederholungen, den hilfreichen Querverweisen und den Belegen aus konkreten Einzelfällen auch an Personen ohne grosse Vorkenntnisse in der Berufsbildung. Dank der umfassenden Analyse und der hohen Detailtreue ist die Publikation auch für Berufsbildungsexpertinnen und -experten eine wichtige und hilfreiche Grundlage.

Von der Formalisierung beruflicher Kompetenzen

Die Berufsbildung für Erwachsene ist gemäss Maurer, Wettstein und Neuhaus vor allem aus sozial- und wirtschaftspolitischen Gründen wichtig. Sie fordert die Bildungspolitik, das Bildungssystem und die Verbundpartner der Berufsbildung heraus, akzeptierte Lösungen zu finden und zu implementieren. In diesem ersten Hauptteil werden die zentralen Begrifflichkeiten und Konzepte dargestellt. Die formale Anerkennung nicht formal oder informell erworbener Kompetenzen und ihre Funktion im Hinblick auf den Erwerb eines Berufsabschlusses ist eines der zentralen Konzepte, das mit hilfreichen Grafiken illustriert ist. Die historische Betrachtung von Berufsabschlüssen in der Schweiz zeigt, dass zwar bereits in den 1930er Jahren erste rechtliche Grundlagen geschaffen wurden, das Validierungsverfahren (4. Weg) jedoch erst im Jahr 2002 im Bundesgesetz verankert wurde. Dieser erste Hauptteil mit den Grundlagen dürfte durchaus umfassender sein und mehr Kontroversen enthalten. So hätte ich beispielsweise gerne mehr über die Rolle der italienischen Gewerkschaften in der Vorbereitung erwachsener Gastarbeiter/innen auf Schweizer Berufsabschlüsse oder jene der Frauenverbände in der Entwicklung der Validierungsverfahren erfahren.

Aktuelle Situation in der Schweiz

Weshalb das Thema der Berufsabschlüsse für Erwachsene «sperrig» ist, wird in der Darstellung der rechtlichen Grundlagen deutlich. Nebst dem Bundesgesetz über die Berufsbildung (BBG) und die Verordnung über die Berufsbildung (BBV) gibt es rund 80 Fachgesetze auf Bundesebene (z.B. Strassenverkehrsgesetz, Invalidenversicherungsgesetz, Weiterbildungsgesetz), 21 Dokumente für das Validierungsverfahren sowie kantonale Regelungen, die es bei der einen oder anderen Frage zu berücksichtigen gilt. Die Autoren gehen in diesem zweiten Hauptteil vertieft auf die vier Wege ein, wie Erwachsene einen Berufsabschluss erlangen können. Es handelt sich dabei um (1) die reguläre berufliche Grundbildung, (2) eine verkürzte berufliche Grundbildung, (3) die direkte Zulassung zur Abschlussprüfung sowie (4) das Validierungsverfahren. Obwohl das Validierungsverfahren der einzige Weg ist, um ohne herkömmliches Qualifikationsverfahren zu einem Berufsabschluss zu kommen, wurde es nur von 7.5% der total 7‘642 Erwachsenen gewählt, die im Jahr 2014 einen Berufsabschluss für Erwachsene erhalten haben. Weshalb letztlich alle vier Wege von Erwachsenen ohne Bildungsabschluss der Sekundastufe II sehr zurückhaltend gewählt werden, wird im Kapitel über die Herausforderungen deutlich. Für die interessierten Erwachsenen sind die grossen Hürden erstens die fehlenden Grundkompetenzen und zweitens die entstehenden Opportunitätskosten. Der Blick über die Grenzen zeigt, dass die Erwachsenen in der Schweiz auf dem Weg zu einem Berufsabschluss die grosse finanzielle Last selber tragen müssen. Die detaillierte Darstellung von ca. einem Dutzend bestehender Angebote macht die Publikation auch zu einer wichtigen Quelle für weitere Angebote.

Auf dem Weg zu einer erwachsenengerechten Berufsbildung

Im letzten Hauptteil werden Schlüsselmerkmale formuliert, die im «Modell 2025» der Autoren konkretisiert und im Sinne von normativen Forderungen als Handlungsempfehlungen formuliert sind. Wesentliche Merkmale des «Modell 2025» sind erstens das Postulat, die interessierten Erwachsenen mit ihren Ressourcen und ihren Bedürfnissen ins Zentrum zu stellen. Das heisst, dass sich sowohl die Finanzierung wie auch die Lehr- und Lernprozesse bis zum Berufsabschluss an den Bedürfnissen der Erwachsenen orientieren müssen. Ein zweites Merkmal sind die Prozesse und Strukturen, die vereinfacht und transparent gestaltet sein müssen und ihre Entsprechung im individuellen Bildungsvertrag finden. Schliesslich sind der politische Wille und die soziale Anerkennung, die über entsprechende Öffentlichkeit gestärkt werden müssen, um den Berufsabschluss für Erwachsene zu einem interessanten Bildungsweg im Schweizer Bildungssystem werden zu lassen, zwei weitere wichtige Merkmale. Das von den Autoren skizzierte «Modell 2025» vermag auf dem Weg zum Berufsabschluss für Erwachsene wichtige Optimierungen zu leisten, sodass sowohl die beteiligten Erwachsenen wie auch die Volkswirtschaft und die Gesellschaft von vermehrten Abschlüssen davon profitieren können. Das «Modell 2025» ist aber auch ein guter Ausgangspunkt für weitere Diskussionen um Systemalternativen, wie beispielsweise Vouchers «Berufsabschluss für Erwachsene» im Umfang von bis zu CHF 100‘000.-. Vouchers setzen erstens dezentrale Anreize für die Erwachsenen ohne Sek-II-Abschluss, die Bildungsanbieter für Grund-, allgemeinbildende und berufsspezifische Kompetenzen sowie die Betriebe und führen zweitens zu einer Vereinfachung der behördlichen Zuständigkeiten.

„Die Berufsbildung für Erwachsene muss zum Thema einer Politik werden, die für eine wirksame Umsetzung der notwendigen Massnahmen sorgt“, schreiben die Autoren am Ende des Buches. Mit ihrer Publikation tragen Maurer, Wettstein und Neuhaus wesentlich dazu bei, wofür ihnen grosser Dank gebührt.

Prof. Dr. Jürg H. Arpagaus, Prorektor, PH Luzern

 

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