Forschende im Dialog

Fokus: Gemäss Leitbild betreibt die PH Luzern «berufsfeldbezogene Forschung und Entwicklung, die internationale Qualitätsanforderungen erfüllt und den internationalen Austausch fördert». In einer Diskussionsrunde sprechen die Instituts- und Zentrumsleitenden darüber, wie sie dieses Ziel erreichen wollen und welche Schwerpunkte sie dabei setzen.

Text Peter Tremp, Zentrumsleiter Hochschuldidaktik Bilder Thomas Zimmermann

 

Annette Tettenborn


Was bedeutet eigentlich «Forschung betreiben»? Inwiefern lassen sich neue Erkenntnisse überhaupt planen?

Anette Tettenborn: Forschung beginnt immer mit einer starken Neugier: Ich will etwas genau wissen, ich will etwas grundlegend verstehen. Um dies mit einem Beispiel zu konkretisieren: Eine Frage könnte sein, wie Lehrpersonen auf wiederholte und massive Unterrichtsstörungen reagieren. Wie erleben sie diese Situationen und wie zeigen und erklären sich Unterschiede in ihrem Handeln? Zur Neugierde gehört es dann auch zu fragen, wie Lehrpersonen unterstützt werden können, Erfolg versprechende Strategien anzuwenden. Wie würden also beispielsweise wirksame Weiterbildungssettings aussehen? Diese Neugierde verlangt einen langen Atem und gute Rahmenbedingungen und steht leider oft im Gegensatz zu kurzfristigen Trendthemen und Finanzierungsmodellen.

Alois Buholzer: Allerdings ist Forschung nur bedingt planbar. Die PH Luzern hat zwar sinnvollerweise mit den Forschungsinstituten inhaltliche Schwerpunkte abgesteckt. Auch die Forschungsfragen, die bearbeitet werden, sind systematisch aus Wissenslücken abgeleitet. Bei der Realisierung konkreter Projekte aber tritt immer wieder Unerwartetes auf. Sicher geglaubte Grundsätze verändern sich, die geplanten methodischen Zugänge erweisen sich als nicht geeignet oder die vorgesehenen Analysen müssen aufgrund der Datenqualität angepasst werden. Forschungsprojekte sind daher nur bis zu einem gewissen Grad planbar.

Markus Wilhelm: Zudem stellt sich immer auch die Frage nach der Finanzierbarkeit von Forschung. Es geht immer auch um Geld, um Drittmittel. Neugier und interessante Forschungsfragen genügen leider meistens nicht, es braucht auch Finanzierungen und manchmal eben auch Flexibilität und Anpassungen.

Peter Gautschi: Um auf unsere Forschungsstruktur an der PH Luzern zurückzukommen: Diese hat den Vorteil, dass wir klar profilierte Schwerpunkte haben. Hier wird uns zugetraut, dass wir in systematischer Weise neue Erkenntnisse gewinnen und dass wir dieses Wissen auch öffentlich teilen.


Pädagogische Hochschulen stehen in einem engen Bezug zu einer Profession. Wie sind Lehrpersonen denn eingebunden in die Forschungstätigkeit der PH Luzern?

Alois Buholzer: Ich möchte dies an einem konkreten Beispiel illustrieren: Zwei Lehrpersonen sind in einem Projekt zu je 20 Prozent an der PH Luzern als Mitglieder des Forschungsteams angestellt und entwickeln gemeinsam mit Forschenden und einer Doktorandin ein Programm, das soziales und sprachliches Lernen miteinander verbindet. Dieses Miteinander ist nicht zuletzt auch deshalb bedeutsam, weil diese Lehrpersonen eben eine andere berufsfeldspezifische Perspektive einbringen und zudem später ja auch Adressaten dieser neuen Konzepte sind, an deren Erarbeitung sie aber auf Augenhöhe mitgewirkt haben. Meines Erachtens besteht die grosse Herausforderung darin, die unterschiedlichen Sprachen von Wissenschaft und Schulpraxis gegenseitig verständlich zu machen, also Übersetzungsarbeit zu leisten.

Alois Buholzer

Anette Tettenborn: Und diese Übersetzungsleistung muss tatsächlich von beiden Seiten geleistet werden, es ist kein einfacher Transfer von hier nach dort. Die PH Luzern verfolgt die Strategie, das Schulfeld und die Hochschule enger in Kontakt zu bringen. Wir suchen also nach Möglichkeiten, Forschung und Entwicklung in einem hybriden Raum zu realisieren. Hybrid meint hier: weder an der Hochschule noch an der Volksschule, sondern eben in einem neuen Raum mit Transfermöglichkeiten in die jeweiligen Institutionen. Damit soll den unterschiedlichen Handlungslogiken und Identitäten genügend Raum gelassen werden.

Peter Gautschi: In der Unterrichtsforschung sind wir darauf angewiesen, einen Zugang zu Schulen und zum Unterricht zu erhalten. Ohne eine gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Lehrpersonen geht das nicht. Als Pädagogische Hochschule sind wir in der glücklichen Lage, dass wir auf unterschiedliche Weise ins Professionsumfeld eingebettet sind, zum Beispiel über Praxisschulen. Andere Hochschultypen sind hier mit viel grösseren Herausforderungen konfrontiert, weil sie nicht im alltäglichen Kontakt zu ihrer Professions-Bezugsgruppe stehen.

Markus Wilhelm: Wir arbeiten auch in unserem Institut immer wieder eng mit Lehrpersonen zusammen, um die unterschiedlichen Denkweisen produktiv zusammenzuführen. Das ist gerade in der Fachdidaktik höchst bedeutsam. Teilweise ergibt sich daraus, dass diese Lehrpersonen dann im Forschungsbereich bleiben und Promotionsprojekte realisieren wollen. Was zudem die Kommunikation unserer Forschungserkenntnisse und ihre praktische Umsetzung betrifft, so hat sich in unserem Fach beispielsweise der jährliche SWiSE-Innovationstag etabliert, der von allen grösseren Pädagogischen Hochschulen getragen wird. Er richtet sich jeweils an rund 300 bis 400 teilnehmende Lehrpersonen, präsentiert in Vorträgen die neusten fachdidaktischen Erkenntnisse und bietet Ateliers an, wo praktische Umsetzungen gezeigt und erprobt werden.


«Verknüpfung von Forschung und Lehre» gilt als Kennzeichen von Hochschulen. Was heisst dies konkret für die PH Luzern?

Peter Tremp: Diese Formel der Verknüpfung von Forschung und Lehre ist sicherlich bedeutsam für Hochschulen, sie sagt aber tatsächlich noch wenig aus über die konkrete Realisierung. Diese kann sehr unterschiedlich gestaltet sein. Sicherlich wäre es ein Missverständnis anzunehmen, dass eine Hochschule nur lehrt, was sie selber forscht. Keine Hochschule macht ausschliesslich die eigenen Forschungen zu Lehrthemen. Und von Forschungsseite her können wir auch sagen: Nicht jedes Forschungsprojekt kann curriculare Bedeutung beanspruchen. Insofern muss geklärt werden, von welchen Projekten Studierende etwas mitbekommen, in welche sie sogar aktiv involviert sein sollten. Grundsätzlich geht es, was nun Zielsetzungen eines Studiums an der PH betrifft, um eine forschend-neugierige Grundhaltung, die mit dem Studium beabsichtigt ist. Absolventinnen und Absolventen sind – auch dank dieser Auseinandersetzung mit Forschung – funktionierende Praktikerinnen und Praktiker, die mit den zu erwartenden beruflichen respektive gesellschaftlichen Aufgaben zurechtkommen, sie sind gleichzeitig «zertifizierte Skeptikerinnen und Skeptiker», die stets fragen, ob es auch anders sein könnte, und sie sind «autonome Persönlichkeiten», die ihren wissenschaftlich gebildeten Sachverstand in verantwortungsvoller Weise gebrauchen.

Peter Gautschi: Unser Institut für Geschichtsdidaktik und Erinnerungskulturen hat das grosse Privileg, mit dem Joint-Master Geschichtsdidaktik und öffentliche Geschichtsvermittlung einen Masterstudiengang anbieten zu können, der eng ans Institut gebunden ist. Deshalb können wir Forschung und Lehre sehr eng verbinden. Das geschieht dadurch, dass wir schon in der Projektentwicklung eng mit Studierenden zusammenarbeiten. Diese Projekte bekommen auch in den Lehrveranstaltungen grosse Aufmerksamkeit. Die Verbindung von Forschung und Lehre realisieren wir insbesondere dadurch, dass Studierende die Möglichkeit bekommen, sowohl Hochschul- als auch Forschungspraktika zu machen.

Gesprächsrunde

Anette Tettenborn: Wir müssen wohl zugeben, dass wir in der Verbindung von Forschung und Lehre noch weiterkommen müssen, wenn auch die PH Luzern schon einige Schritte unternommen hat. Zum Beispiel, dass Studierende im Rahmen ihrer Studienleistungen sich auch an Forschungsprojekten unserer Hochschule beteiligen können. Das bedeutet, dass Studierende Einblick gewinnen in die konkrete Datengewinnung und -auswertung, aber auch in die notwendige Sorgfalt beispielsweise bei Testerhebungen mit Schülerinnen und Schülern. Damit werden auch Ergebnisse von Forschungsprojekten vertiefter einschätzbar.


In den letzten Jahren wurde zunehmend die Bedeutung der Forschungskommunikation betont, also das Anliegen, dass das wissenschaftliche Wissen auch mit einer interessierten Öffentlichkeit geteilt wird. Wie lässt sich dies realisieren?

Peter Gautschi: Pädagogische Hochschulen haben es mit Themen zu tun, die von grossem öffentlichem Interesse sind. Wir müssen allerdings betonen, dass unsere Kompetenz über Pädagogik und Schule hinausgeht. Unser Thema ist «Vermittlung». Dies lässt sich beispielsweise bei «Geschichtsvermittlung» zeigen, die natürlich in der Schule stattfindet, aber heute viel intensiver in der Gesellschaft. Historische Bildung wird auch in Ausstellungen, Spielfilmen oder Computer-Games angeboten, und so interessieren sich auch Ausstellungsmacherinnen und -macher, Filmproduzierende oder Medienverantwortliche für unsere Erkenntnisse. Natürlich teilen wir unser Wissen auch über die sozialen Medien. Hier stehen uns heute neue Möglichkeiten zur Verfügung, die es uns leichter machen, direkt mit interessierten Kreisen zu kommunizieren.

Anette Tettenborn: Auch aus unserem Bereich wäre das Thema «Vermittlung» höchst anschlussfähig. So geht es beispielsweise in Vermittlungsprozessen darum, seine eigenen Emotionen regulieren zu können. Was wir also aus Unterrichtssituationen kennen, kennt Analogien in anderen beruflichen Situationen.

Alois Buholzer: Was Forschungskommunikation betrifft, so kann ich auf zwei sehr konkrete Umsetzungen hinweisen. So zum Beispiel auf die Webseite «Integration und Schule», die wir zusammen mit Partnern betreiben. Eltern, Bildungsbehörden und weitere interessierte Kreise können sich hier orientieren über den aktuellen Stand in jedem Kanton, was die Integration betrifft. Oder: Wir haben kürzlich in Zusammenarbeit mit anderen Hochschulen eine nationale Tagung zum Thema Achtsamkeit durchgeführt. Angesprochen waren nebst Lehrpersonen auch Schulpsychologen und -psychologinnen, Mitarbeitende der Schulsozialarbeit, Schulleitungen und Bildungsverantwortliche. Der grosse Hörsaal war mit 300 Teilnehmenden voll besetzt. Überhaupt sind Tagungen, die breit ausgeschrieben werden, eine gute Möglichkeit, um weitere Kreise an unserer Expertise teilhaben zu lassen, aber auch, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen.

Alois Buholzer

Markus Wilhelm: Und als kurze Ergänzung: Unsere Anstrengungen im Bereich des ausserschulischen Lernens zielen auch darauf ab, basierend auf unseren Forschungserkenntnissen breite Kreise an unserem Wissen teilhaben zu lassen.


Hochschulen schliessen sich mit ihrer Forschung an einem internationalen Wissensspeicher an, und davon wird gleichzeitig ein lokaler Gewinn erwartet. Ein Spagat?

Markus Wilhelm: Ich unterscheide zwischen Wucht und Wirkung: Die Wucht wäre der wissenschaftliche Impact, der gerade auch für unsere jungen Forscherinnen und Forscher für ihre eigene Laufbahn wichtig ist, und die Wirkung bezieht sich auf die praktische Bedeutsamkeit vor Ort. Gerade im Fach NMG — das Fach gibt es nur in der Deutschschweiz — müssen wir lokale Wirkung entfalten können. Allerdings: Der Spagat zwischen Wucht und Wirkung ist nicht einfach.

Alois Buholzer: Hochschulen sind ja auch eingeladen, den internationalen Wissensspeicher zu bereichern. Wir dürfen darauf hinweisen, dass wir in bedeutsamen Fachzeitschriften (high ranked journals) publizieren und uns aktiv an internationalen und nationalen Kongressen einbringen. Wir dürfen auch feststellen, dass wir uns mit unseren Forschungsleistungen überhaupt nicht zu verstecken brauchen vor unseren Kolleginnen und Kollegen der scientific community, im Gegenteil: Wir stossen auf grosse Beachtung und unsere Beiträge werden mit Interesse wahrgenommen. Selbstverständlich schliesst dies nicht aus, dass auch Schulen vor Ort oder kantonale Schulsysteme profitieren — etwa wenn wir sehr konkrete Hinweise abgeben können aufgrund von Forschungsergebnissen, die wir mit internationalen Fachkolleginnen und Fachkollegen erörtert haben.

Peter Gautschi: Als zusammenfassende Kurzantwort: Forschung ist international und ansonsten eben keine Forschung. Und: Du wirst nur Meister, wenn du die Heimspiele gewinnst.


Abschliessend sei je eine persönliche Frage gestellt. Forschung beginnt ja mit Fragen. Gibt es eine Frage, an der du selber bisher immer gescheitert bist?

Markus Wilhelm: Ich stelle mir immer dieselbe Frage, die ich nicht beantworten kann: Wieso lasse ich mich immer wieder auf völlig neue Fragestellungen und Methoden in der fachdidaktischen Forschung ein? Einfacher wäre es doch, über Jahrzehnte immer das Gleiche mit kleinen Variationen zu machen.


Die Forschungstätigkeit hat auch immer Enttäuschungen parat. Welches war bisher deine grösste Enttäuschung als Forscherin?

Anette Tettenborn: Das war im Rahmen meines Dissertationsprojektes und die Enttäuschung betraf die Einsicht, dass gute Forschung und deren Ergebnisse nicht unbedingt zu entsprechenden bildungspolitischen Entscheidungen führen. Wir hatten die Ergebnisse der Marburger Hochbegabtenstudie dem zuständigen Ministerium präsentiert. Der politische Entscheid für die Einrichtung von Begabtenschulen fiel entgegen den klaren Forschungsergebnissen aus. Das war — ich war damals 25 — eine grosse Enttäuschung, die aber heilsam war, was die Wirkungsmacht von Forschungsergebnissen angeht.


Forscher forschen. Bist du aber auch schon selber beforscht worden?

Peter Gautschi: Ja, das bin ich schon mehrfach, zum Beispiel beim Schulgeschichtsbuch «Hinschauen und Nachfragen». Da haben Forschende herausgefunden, dass die Lehrpersonen sowohl den Inhalt als auch das didaktische Konzept von Lehrmitteln anhand eigener Vorstellung sehr stark formen und verändern. Das hat mich zuerst irritiert und verunsichert, weil viele der guten Absichten, die wir hatten, gar nicht umgesetzt wurden. Sie verpufften. Die Wirkung des Lehrmittels war anders, als wir es uns erhofft hatten. Danach aber hat es bei mir zu einem gelasseneren Umgang mit der eigenen Entwicklungsarbeit geführt. Natürlich will ich das Angebot weiterhin so gut wie möglich gestalten, aber die Nutzerinnen und Nutzer machen damit, was sie wollen.


Was sind für dich besonders herausfordernde Situationen in deinem Forschungsalltag?

Alois Buholzer: Herausforderungen im Forschungsalltag kommen oft vor. Als besonders herausfordernd nehme ich Situationen wahr, in denen kaum vereinbare Forschungstraditionen oder inhaltliche Ausrichtungen in einem Forschungsteam aufeinanderprallen und nur begrenzt Zeit zur Verfügung steht, sie zu diskutieren und unter einen Hut zu bringen. Oder wenn im Rahmen von Evaluationen der Auftraggeber versucht, Einfluss auf den Evaluationsbericht zu nehmen. Hier ist es wichtig, auf die Unabhängigkeit der Forschung zu pochen und die Fakten sprechen zu lassen bzw. im ersten Beispiel durch eine gute Kommunikation die Differenzen zu überbrücken und produktiv zu nutzen.


Wissenschaft ist nie abgeschlossen, Forschung ist dazu da, überholt zu werden. Was bedeutet dies für dich?

Peter Tremp: Tatsächlich müssen wir davon ausgehen, dass unser in der Forschung generiertes Wissen überholt werden wird. Das kann nur helfen, Gelassenheit zu entwickeln, sich als Einzelperson nicht allzu wichtig zu nehmen, auch zu realisieren, dass man tatsächlich in eine Diskursgemeinschaft eingebunden ist, die sich voranschiebt. Und gleichzeitig mache ich immer wieder die Beobachtung, dass es auch ältere Antworten auf bestimmte Fragen gibt, die weiterhin interessant und anregend sind, Antworten, die eben einige grundlegende Fragen von Erziehung, Bildung und Schule betreffen.

Markus Wilhelm

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