Ausgrenzungen in der Schule verstehen

Eine Studie des Instituts für Schule und Heterogenität der PH Luzern zeigt, dass das Verhalten der Lehrperson für eine gelingende soziale Inklusion im Schulzimmer zentral ist.

Die Integrative Schule wird in der Schweiz immer häufiger. Wenn Kinder mit Behinderung eine Regelklasse besuchen, so hat dies auch das Ziel, die soziale Integration zu verwirklichen. Doch in der Praxis klappt diese Integration im Klassenzimmer nicht immer. Das Forschungsprojekt des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) «Ausschluss von Kindern mit Lernbehinderung und Verhaltensauffälligkeit: Die Rolle von Lehrperson und Gleichaltrigen» des Instituts für Schule und Heterogenität (ISH) der PH Luzern untersucht, wie diese Integration besser unterstützt werden kann. Es zeigt sich, dass Lehrpersonen, welche die Kinder sozial und emotional unterstützen und ihre diskursiven Fähigkeiten fördern, entscheidend zur gelungenen Integration beitragen können. Leiter dieses SNF-Projekts ist der Entwicklungspsychologe Luciano Gasser. «Unser Team will herausfinden, was die Lehrperson machen kann, um die Einstellungen oder Sichtweisen der Schulkinder positiv zu beeinflussen.» Sein Ansatz: Wenn Lehrpersonen mit Konflikten von Ein- und Ausschluss in der Klasse adäquat umgehen wollen, dann müssen sie wissen, wie Kinder die Situation verstehen und was ihre Sicht auf die Konflikte ist.

Ausschluss trotz schlechtem Gewissen

Die Sichtweise der Schulkinder haben Luciano Gasser und das ISH in einem früheren Forschungsprojekt untersucht: Zwischen 2009 und 2011 befragten sie 486 Kinder vom Kindergarten bis zum Ende der Primarschule im Rahmen des SNF-Projekts «Entwicklung sozialer und moralischer Kompetenzen in integrativen Klassen» zur Ausgrenzung. «Wenn man die Kinder altersunabhängig fragt, ob es richtig ist, Kinder mit Behinderung auszuschliessen, sagen alle, sie fänden es falsch. Dazu können sie gute Gründe aufzählen: Es sei unfair, es verletze andere», fasst Luciano Gasser zusammen. Geht es aber um konkrete und komplexe Situationen, bei welcher der Einschluss eines behinderten Kindes Nachteile für die Gruppe mit sich bringt, nimmt die Bereitschaft zur Integration schnell ab. «Wenn das Kind das Gefühl hat, dass die Gruppe durch den Einschluss schlechter Zusammenarbeiten kann, oder dass es weniger lustig wird, sind die befragten Kinder weniger bereit das behinderte Kind mitzunehmen», erklärt Luciano Gasser. Diese Tendenz verstärkt sich mit dem Alter zusehends. Umso älter die Kinder werden, desto sensibler werden sie beispielsweise gegenüber von Gruppennormen. Die Kinder wägen genauer ab, ob der Einschluss eines behinderten Kindes mit den ihnen vertrauten Gruppennormen im Konflikt steht. Trotz dieser zunehmenden Sensibilisierung auf Gruppennormen nimmt mit zunehmendem Alter auch das schlechte Gewissen, das ein Ausschluss eines behinderten Kindes mit sich führt, zu. Obwohl sich Kinder immer bewusster werden, was Ausschluss für das Opfer bedeutet, finden sie es unter Umständen in Ordnung, andere auf Grund von Behinderung oder Herkunft auszuschliessen.

Um als Lehrperson den Ein- und Ausschluss in seiner Klasse steuern zu können, ist es wichtig, zu verstehen, wie Kinder über Ausschluss denken. Will die Lehrperson mit Kindern ein Gespräch führen und sie so für das Thema sensibilisieren, dann muss sie wissen, in welchen Momenten Gruppennormen ein zentraler Aspekt werden. «So kann man das in der Diskussion aufgreifen und sie so anregen, darüber kritisch nachzudenken», rät Luciano Gasser.

Entwicklungspsychologe Luciano Gasser führte seine Einzelinterviews mit den Kindern auf Augenhöhe. Knapp 500 vom Kindergarten bis zum Ende der Primarschule interviewten er und sein Team. Dabei zeigte sich, dass die Kinder die Ausgrenzung zunächst durchwegs als falsch empfanden.

Entwicklungspsychologe Luciano Gasser führte seine Einzelinterviews mit den Kindern auf Augenhöhe. Knapp 500 vom Kindergarten bis zum Ende der Primarschule interviewten er und sein Team. Dabei zeigte sich, dass die Kinder die Ausgrenzung zunächst durchwegs als falsch empfanden. ( Bild: Thomas Zimmermann)

Befragt und beobachtet

Um heraus zu finden, wie die Lehrperson am besten vorgeht, um solche Einstellungen oder Sichtweisen positiv zu beeinflussen, muss zunächst eine Bestandsaufnahme gemacht werden, wie Lehrpersonen derzeit in Schweizer Schulzimmern mit Ausgrenzung umgehen. Luciano Gassers laufendes SNF-Projekt macht dies mittels zwei verschiedener Methoden. Die erste ist der Fragebogen. Die Kinder berichten darin, wie die Lehrperson mit sozialem Ein- und Ausschluss umgeht. Die Lehrpersonen beantwortet via Fragebogen ihrerseits, welches ihre persönlichen Strategien im Umgang mit Ausschluss sind. Kindern wie Lehrpersonen wurden dazu ganz ähnliche Situationen, die auf dem Alltag der Kinder basieren, vorgelegt. Darauf werden den Lehrpersonen verschiedene Strategien vorgeschlagen und diese müssen sie dann bewerten. Die zweite Methode ist die direkte Beobachtung zweier Lektionen im Klassenzimmer. Mittels des «Classroom Assessment Scoring System» (CLASS) wird untersucht, wie emotional unterstützend eine Lehrperson für die Kinder ist. «Das Beobachtungsinstrument CLASS zeigt auf, wie gut es der Lehrperson gelingt, eine Beziehung zu den Kindern aufzubauen, wie sensibel sie gegenüber der Bedürfnisse der Kinder ist und wie stark sie die Eigenständigkeit der Kinder fördert», erklärt Luciano Gasser.

Nun kann er nach rund zwei Jahren Laufzeit des SNF-Projekts ein erstes Zwischenfazit ziehen: Es zeigt sich, dass es äusserst wichtig für die Integration ist, dass Gespräche im Schulalltag geführt werden. «Je besser die Lehrperson die Gespräche in den Unterricht einbaut, desto besser klappt die Integration», erklärt Luciano Gasser. «Es soll zur Kultur im Klassenzimmer gehören, über Verletzungen zu sprechen oder über Ausschluss. Über alle Themen, die ein Kind emotional belasten», so Gasser.

Doch wie steht es heute mit der emotionalen Unterstützung in Schweizer Klassenzimmern? Das standardisierte Instrument CLASS lässt Vergleiche zu. Diese zeigten, dass Schweizer Lehrpersonen besser abschneiden als jene in den USA. Einzig bei der Förderung der Eigenständigkeit bei Kindern, waren die Ergebnisse ähnlich schlecht wie in den USA. «Es gelingt den Lehrpersonen relativ gut, ein positives Klima zu schaffen, gute Beziehungen zu den Schülern aufzubauen, aber es fällt ihnen schwer, Verantwortung auf die Schüler abzugeben und Eigenständigkeit zu fördern», fasst Luciano Gasser zusammen. Auch zeigten sich eher niedrige Werte in der Qualität von Klassengesprächen, welche für die soziale Entwicklung aber zentral sind. Die höchsten Werte erzielten die Lehrpersonen dieser Stichprobe in Aspekten der Klassenführung. Luciano Gasser zieht aus diesen Befunden folgendes Fazit: «Klassenführung ist natürlich wichtig. Es sollte aber nicht so sein, dass diese zu einer übermässigen Kontrolle führt, in welchem Verantwortlichkeit und die Einübung diskursiver Kompetenzen zu kurz kommen.»

Lehrperson gezielter vorbereiten

Luciano Gasser sieht auch in der Ausbildung von Lehrpersonen Potenzial: «Lehrpersonen fühlen sich verunsichert, wenn es um die Förderung sozialer Kompetenzen geht. Und sie fühlen sich in dieser Aufgabe durch die Pädagogischen Hochschulen zu wenig vorbereitet.» Dies stimme ihn nachdenklich, wenn man bedenke, welche Bedeutung sozialen und moralischen Kompetenzen für den beruflichen Erfolg und vor allem für eine inklusive und demokratische Gesellschaft zukomme. Es sind stärkere Bemühungen in diese Richtung nötig. Es ist nicht mal erforderlich, dass neue Module in die Ausbildung von Lehrpersonen integriert werden. Man müsste sich aber stärker um eine systematische Integration der sozialen Förderung in den Fachunterricht bemühen. Soziale Kompetenzen wie kritisches moralisches Denken oder Perspektivenübernahme lassen sich im Unterricht nicht nur über Literatur wunderbar fördern. Es gibt in allen Fächern entsprechende Momente, welche sich für die Förderung der sozialen Entwicklung eignen. Die Sensitivität der Lehrpersonen für solche Momente muss aber in der Ausbildung auf Basis starker und evidenzbasierter Ansätze gezielt geübt werden.

Am ISH wird bereits über eine mögliche Fortsetzung der Studie nachgedacht. Lehrpersonen erhalten ein individuelles Videocoaching, um ihre emotionalen und schulischen Unterstützungsfähigkeiten zu verbessern. In den USA wird ein ähnliches Coachingprogramm, das auf CLASS basiert, bereits praktiziert. Studien zeigen, dass durch die Anwendung eines solchen Coachings Stress und Burnout-Syndrome stark abnehmen und sich die sozialen Beziehungen unter den Kindern oder Jugendlichen verbessern.

Text: Michael Weber

Die befragten Kinder entschieden, anhand solcher Bilder, ob sie lieber den «guten Schüler» Peter oder den «geistig behinderten» Matthias in ihre Gruppe aufnehmen würden.

Die befragten Kinder entschieden, anhand solcher Bilder, ob sie lieber den «guten Schüler» Peter oder den «geistig behinderten» Matthias in ihre Gruppe aufnehmen würden. (zvg)

 

APriL-Studie
Ein weiteres Projekt am ISH ist die APriL-Studie, In dieser wird untersucht, welche Konstellationen von Akkulturationsorientierungen (übereinstimmend vs. nicht übereinstimmend) zwischen Primarschulkindern und ihren Lehrpersonen existieren und wie sich diese auf die Lehrer-Schüler-Beziehung, die psychosoziale Adaptation und den Bildungserfolg der Schüler/-innen auswirken.

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