Wie die Kultur den Schulalltag prägt

Musik, Technisches Gestalten und Bildnerisches Gestalten gelten als klassische «Kulturfächer». Doch das Gespräch dreier kulturaffiner Lehrpersonen zeigt, dass der gesamte Schulalltag von Kultur durchdrungen ist.

Pee Wirz, Marianne Zaccaria und Pius Häfliger (von links) diskutierten über den Stellenwert der Kultur im Schulalltag.

Pee Wirz, Marianne Zaccaria und Pius Häfliger (von links) diskutierten über den Stellenwert der Kultur im Schulalltag (Bildmontage).

Welchen Stellenwert hat die Kultur im Schulalltag?
Marianne Zaccaria: Die Kultur ist eines der wichtigen Themen. Ich würde sogar sagen, die Schule ist grundsätzlich Kultur.
Pee Wirz: Die Kultur hatte für mich schon immer einen enorm grossen Stellenwert. Denn ich verbinde die Kultur mit meinen beiden Berufen: Musik und Schule. So entlocke ich beispielsweise im Bildnerischen Gestalten den Künstler aus den Schülern.

Gibt es einen Unterschied zwischen Kultur und kultureller Bildung?
Pius Häfliger: Es gibt zwei Herangehensweisen an den Begriff Kultur. Kultur als Betätigung – z. B. als Musiker oder Schauspieler. Kultur als Hintergrund – eine westeuropäische, asiatische oder afrikanische Kultur. Im Schulzimmer treffen kulturelle Betätigung und kulturelle Hintergründe aufeinander. Als Kulturbeauftragter bin ich dafür mitverantwortlich, dass Kultur stattfindet an der PH Luzern. Eine Abgrenzung ist hingegen schwierig. Da kann schon mal die Frage auftauchen, ob denn nun Sport auch Kultur sei – oder ob er erst in Verbindung mit Tanz zu Kultur werde.
Pee Wirz: Ist überhaupt etwas nicht Kultur? Ich würde sagen, es gibt wahrscheinlich auch eine Mathematik-Kultur.

Wie könnte diese aussehen?
Pee Wirz: Da bin ich jetzt wohl die falsche Person. Mein Punkt ist, dass alles eine Entwicklung dahinter hat. Und in dieser historischen Entwicklung entsteht die entsprechende Kultur.
Pius Häfliger: Die Frage lautet: Was hat keinen kulturellen Hintergrund? Und ich denke: nichts. Denn jeder kommt irgendwoher; hat irgendwo seine Wurzeln. Bei uns ist es meistens die westeuropäische Tradition. Es gibt aber auch ganz andere Wurzeln.

Durch diese Vielfalt stellt sich doch die Frage, welche Inhalte muss eine kulturelle Bildung vermitteln?
Marianne Zaccaria: Die Frage ist vielleicht, braucht es überhaupt eine solche Bildung? Denn bei uns im Schulhaus und vermutlich in allen Schulen findet permanent kulturelle Bildung statt. Der ganze Schulalltag ist damit durchzogen. Jede Klasse singt, tanzt und liest. Dagegen steht das bewusste Heranführen an die Kultur. Dass ein Ballett schön ist und nicht langweilig, müssen wir den Kindern aktiv bewusst machen und ihnen durch den Besuch solcher Veranstaltungen gleichzeitig Erlebnisse ermöglichen, die sie sonst nicht haben.
Pee Wirz: Dieses aktive Heranführen ist ein Auftrag der Schule. Derzeit bin ich Musik-, Sprach- und Zeichenlehrer von 6.Klässlern. Wegen des baldigen Schulübertritts konzentrieren sich die Kinder aber vor allem auf jene Fächer, deren Noten zählen. Und da merke ich, dass vielen die Musik oder das das Zeichnen egal wird. Und die Eltern unterstützen teilweise diese Ansichten noch.

 

«Dieses aktive Heranführen an die Kultur ist ein Auftrag der Schule.» Pee Wirz

«Dieses aktive Heranführen an die Kultur ist ein Auftrag der Schule.» Pee Wirz

Frau Zaccaria, sehen Sie als Schulleiterin ebenfalls diese Tendenz?
Marianne Zaccaria: Ja, aber die Kultur hat in anderen Fächern auch Platz. So können die Klassen im Deutsch bewusst ein schönes Gedicht oder ein gutes Buch lesen. Und wenn dann der Übertrittsstress überstanden ist, können die Schüler das Zeichnen oder den Theaterbesuch auch wieder richtig geniessen. Ich bin überzeugt, dass die vermittelte Kultur ein ausgleichendes Gegenstück ist zu all dem dummen, gewalttätigen Zeug, das die Kinder im Fernsehen oder auf YouTube sehen, eine Art heilendes Gegenstück.

In eine solche Richtung geht auch das Projekt «BaBel-Strings» (siehe unten).
Marianne Zaccaria: Ja. Die meisten Kinder aus dem Gebiet der Basel- und Bernstrasse besuchen keinen privaten Musikunterricht. Dieser ist schlichtweg zu teuer und zu weit weg. Und so erhalten Kinder in unserem Schulhaus gratis Musikunterricht. Sie spielen auf gespendeten Streichinstrumenten. So wird den Kindern der Zugang zu Kultur ermöglicht.

Sie alle drei haben eine Lehrerausbildung gemacht. Wie wurde dort Kultur vermittelt?
Pee Wirz: Ich habe noch am Lehrerseminar die Ausbildung absolviert. Die vielseitige Beschäftigung mit Kultur war etwas, das mir sehr gefallen hat und mich wohl auch geprägt hat. Die Kultur machte mir Lust ins Semi zu gehen, und die Ausbildung zu machen. Sie hat mich auch durch die anderen Phasen gerettet.
Marianne Zaccaria: Ich weiss nicht, wie bewusst bei uns Kultur vermittelt wurde. Aber meine Französischlehrerin war genial. Sie hat uns die französische Kultur nahe gebracht. Auch was der Zeichenlehrer uns alles vermittelt hat, war fantastisch.

Also sehr personenabhängig?
Marianne Zaccaria: Ja. Mathe hat mich entsprechend weniger gepackt.
Pius Häfliger: Ich war in Hitzkirch im Lehrerseminar und habe mich fünf Jahre intensiv mit Kultur beschäftigt – eine unglaublich wertvolle Zeit.

«Jede Lehrperson vermittelt automatisch Kultur.» Pius Häfliger

«Jede Lehrperson vermittelt automatisch Kultur.» Pius Häfliger

War diese Zeit so prägend, dass Sie nachher in die Kultur wechselten?
Pius Häfliger: Auf jeden Fall war sie mitbestimmend. Diese fünf Jahre haben mir einen umfassenden Zugang zur Kultur ermöglicht und das prägt mich bis heute.
Pee Wirz: Ich ging damals ans Semi, weil ich nicht wusste, welchen Beruf ich erlernen soll. Ich habe schon zuvor gerne Musik gemacht oder auch gebastelt. Im Semi ist das Interesse gestiegen – vor allem durch die spannenden Projektwochen. Beispielsweise habe ich den Dadaismus, der ja derzeit in allen Medien ist, dort kennen gelernt. Mein Deutschlehrer ermutigte mich, meine Diplomarbeit über dieses Thema zu schreiben. Das hat mich damals enorm fasziniert.
Marianne Zaccaria: Ich wusste schon seit meinem ersten Schultag, dass ich Lehrerin werden wollte, da ich eine hervorragende Klassenlehrerin hatte. Sie hat einfach alles richtig gemacht.

Und ein Wechsel in einen rein kulturellen Beruf hat Sie nie gereizt?
Marianne Zaccaria: Das Schreiben reizte mich immer. Ich wäre auch gerne Journalistin geworden. Ich habe zusammen mit einem Fotografen ein Buch über die kleinen und grossen Geschichten unseres Schulhauses gemacht.

Ihre Beispiele zeigen, dass Lehrpersonen kulturaffiner sind, als andere Berufsgruppen. Täuscht das?
Marianne Zaccaria: Sie müssen es sein. Wenn man in diesen Beruf einsteigt, kann man nicht sagen, das interessiert mich alles nicht.
Pee Wirz: Ich habe schon das Gefühl, dass jene Leute, die zusammen mit mir das Semi besucht haben, allesamt kulturaffin waren und auch heute noch sind.
Pius Häfliger: Jede Lehrperson vermittelt automatisch Kultur. Zum Beispiel die Liebe zu den Sprachen – Muttersprache wie Fremdsprache – kann man nur über die Kultur vermitteln. Der Entscheid, Lehrerin oder Lehrer zu werden, beinhaltet automatisch ein «ja» zur Kultur. Als Projektleiter des SchuKuLu-Kulturtags sehe ich die Wirkung der Kultur auf unsere Studenten. Letztes Jahr waren 450 Grundjahrstudierende in der Stadt Luzern unterwegs und erhielten Einblicke in das hiesige Kulturangebot. Das Interesse war riesengross und die Rückmeldungen positiv. Wie viel davon bei den Studierenden hängenbleibt, ist schwierig abzuschätzen.

 

«Lehrpersonen müssen kulturaffin sein. Wenn man in diesen Beruf einsteigt, kann man nicht sagen, das interessiert mich alles nicht.» Marianne Zaccaria

«Lehrpersonen müssen kulturaffin sein. Wenn man in diesen Beruf einsteigt, kann man nicht sagen, das interessiert mich alles nicht.» Marianne Zaccaria

Welche kulturellen Kompetenzen müssen die PH-Absolventinnen und Absolventen heute mitbringen?
Pee Wirz: Das ist schwierig zu sagen, weil es schwierig zu definieren ist. Man müsste es runterbrechen auf greifbare Fach-Kompetenzen, also bestimmte nachweisbare Fähigkeiten. Man müsste eher sagen, dass an der PH nur Leute studieren dürfen, die kulturaffin sind und nach dem Abschluss sollten diese noch kulturaffiner sein. Aber das geht natürlich nicht und ist wohl auch nicht nötig.
Marianne Zaccaria: Auch ich kann keine Liste nennen. Das Wichtigste, was junge Lehrpersonen mitbringen müssen, ist eine gewisse Grundlebensfreude. Wenn ich eine abgelöschte Lehrperson im Lehrerzimmer sehe, kann mir nicht vorstellen, dass diese gut unterrichten und den Kindern Freude am Lernen mitgeben kann.

Wie wichtig ist Ihnen als Eltern die kulturelle Bildung Ihrer Kinder?
Pee Wirz: Mein Sohn hatte etwas Angst am ersten Schultag. Als ich mit ihm das Schulzimmer betrat, habe ich mit grosser Freude festgestellt, wie kreativ seine Lehrerin die Kinder abgeholt hat. Sie haben gemeinsam gesungen und meinem Sohn hat das sofort die Angst genommen und er hat gestrahlt.
Pius Häfliger: Ich stelle mir die Frage nicht, wie stark meine Kinder in der Schule kulturell gebildet werden. Kulturelle Bildung findet immer statt, ist aber abhängig von der Persönlichkeit der Lehrperson. Der Lehrplan ist das eine; der vermittelnde Mensch das andere.

Was ist mit Kindern von weniger kulturinteressierten Menschen?
Marianne Zaccaria: Wir geben uns grosse Mühe bei Kindern, die von zuhause weniger mit bekommen. Gerade durch die in etwa gleichteilige Mischung aus Kindern der vor allem ausländischen Unterschicht aus dem BaBel-Quartier mit den Kindern des vorwiegend Schweizerischen Oberschichtquartiers Bramberg haben wir eine wohl schweizweit einmalige Ausgangslage. Die Schere ist riesig. Aber hier ist die Kultur ein Schlüssel diese Schere zu schliessen. Die Kinder saugen diese Kulturhäppchen auf wie Schwämmchen.
Pius Häfliger: Die Schule hat nicht die Aufgabe jenen Kindern Kultur zu vermitteln, die sie von Haus aus eh schon haben, sondern allen etwas zu geben.

Interview: Michael Weber –  Bilder: Thomas Zimmermann

 

Marianne Zaccaria ist Schulleiterin der PS St. Karli, Buchautorin und Mutter

«Die Kinder saugen diese Kulturhäppchen auf wie Schwämmchen.» Marianne Zaccaria

«Die Kinder saugen diese Kulturhäppchen auf wie Schwämmchen.» Marianne Zaccaria

Pee Wirz ist Sänger der Rockgruppe Dada ante portas, Primarlehrer und Vater

«Die Kultur machte mir Lust, ins Semi zu gehen. Sie hat mich auch durch die anderen Phasen gerettet.» Pee Wirz

«Die Kultur machte mir Lust, ins Semi zu gehen. Sie hat mich auch durch die anderen Phasen gerettet.» Pee Wirz

Pius Häfliger ist Dozent und Kulturbeauftragter PH Luzern und Vater

«Die Frage lautet: Was hat keinen kulturellen Hintergrund? Und ich denke: nichts.» Pius Häfliger

«Die Frage lautet: Was hat keinen kulturellen Hintergrund? Und ich denke: nichts.» Pius Häfliger

 Babel Strings

Angeregt durch das venezuelanische Projekt «El Sistema» entstand 2011 in Luzern die Idee, Kindern und Jugendlichen aus dem multikulturellen Quartier Basel-/Bernstrasse (BaBeL) die Welt der klassischen Musik zu eröffnen. Heute treffen sich zweimal wöchentlich 20 bis 25 Kinder im St. Karli Schulhaus, um Geige, Cello oder Kontrabass zu spielen. Ein Team von Musikpädagoginnen und Musikern leitet und begleitet die BaBeL Strings. Musik-Studierende der Hochschule Luzern unterstützen sie dabei. Finanziert wird BaBeL Strings durch Stiftungen, durch Beiträge von Stadt und Kanton Luzern sowie durch private Spenden. (red)

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