Zu viel Akademisierung in der Berufsbildung oder zu viel Vocationalisierung in der Hochschulbildung?

In der Berufsbildung wird die «Akademisierung» oft als das Schreckensgespenst dargestellt. Obwohl die Zukunft ungewiss ist, sind sich die «Berufsbildungsfachleute» einig, Berufsbildung darf nicht akademisiert werden. Doch was ist so schädlich an der sogenannten «Akademisierung»? Ist es nicht die «Vocationalisierung» der Hochschulen, die der Berufsbildung den Rang abläuft?

Eine der grossen Stärken der Berufsbildung ist ihre Anbindung an den Arbeitsmarkt. In der Schweiz haben wir einen der flexibelsten Arbeitsmärkte, der es besser als die meisten andern Arbeitsmärkte schafft, den «Match» zwischen der Arbeitsnachfrage der Wirtschaft und dem Arbeitsangebot herzustellen. Dies gilt trotz der steigenden Qualifikationsanforderungen auf dem Arbeitsmarkt. Die tiefen Arbeitslosenzahlen dürfen auch als Resultat der Anpassungsfähigkeit des Bildungssystems gedeutet werden. Bis heute ist es in der Schweiz ausgezeichnet gelungen, sowohl die klassischen Grundkompetenzen wie auch neue Schlüsselkompetenzen zu vermitteln. Mit dem Lehrplan 21 und der stärkeren Betonung überfachlicher und transversaler Kompetenten kann mit Zuversicht in die Zukunft geschaut werden. Auch auf der Sekundarstufe II werden grosse Fortschritte gemacht. Obwohl das gesetzte Ziel von 95% der 25jährigen mit einem Sek-II-Abschluss noch nicht erreicht wurde, sind Bemühungen im Gange, die Sekundarstufe II weiterzuentwickeln. Ich denke dabei beispielsweise an die Initiative des SBFI «Berufsbildung 2030» oder die Tendenz auch auf der Sekundarstufe IIa transversale Kompetenzen oder Informatikbildung zu stärken.Das hoch durchlässige Bildungssystem der Schweiz zeichnet sich auch dadurch aus, dass es Leistung belohnt, und zwar auch dann, wenn nicht der geradlinige Weg gegangen wird. Wer sich mit 30 oder 40 Jahren noch für eine Erwachsenenlehre, eine Maturität für Erwachsene oder ein Studium an einer Hochschule oder Universität entscheidet, kann dies mit entsprechender Leistung auch schaffen. Das sind keine einfachen Wege, sie werden jedoch vom Bildungssystem mit einem Ausweis (institutionalisiertem Kulturkapital) und vom Arbeitsmarkt z.B. mit einem tieferen Arbeitslosenrisiko belohnt. Das allseits begrüsste meritokratische Bildungssystem führt die Leistungswilligen und Leistungsstarken zwangsläufig in Richtung Akademie.

Vor diesem Hintergrund ist die oft polemisch geführte «Akademisierungsdebatte» in der Berufsbildung nur schwer verständlich. In der Schweiz liegt die Arbeitslosenquote der Personen mit einem tertiären Abschuss tiefer als bei Personen mit einem Abschluss auf Sekundarstufe II. Wie wir aus Daten in Deutschland wissen, wird die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt nach Qualifikationen der Sekundarstufe II in den nächsten 15 Jahre abnehmen und die Nachfrage nach Personen mit einem Tertiärabschluss zunehmen. Im Moment ist also der Arbeitsmarkt darauf angewiesen, dass sich mehr Personen weiterqualifizieren und Kompetenzen der Tertiärstufe erwerben. Schliesslich sind es gerade die Branchen mit einem hohen Anteil an Akademiker/innen, die die höchste Wertschöpfung ausweisen.

Die geforderten Kompetenzen in einer komplexer werdenden und vernetzten Welt verschieben sich in Richtung «Akademie». In der Digitalisierungsdebatte scheint man sich einig zu sein, dass die Erwerbstätigen künftig vor allem Problemlösungskompetenzen, Lernfähigkeit oder Kreativität (Expertenwissen, Motivation, Kreativitätstechniken) aufweisen müssen. Das sind alles Kompetenzen, die als «akademisch» bezeichnet werden können. Komplexe Probleme können nur noch gelöst werden, wenn sie aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden, wenn systematisch vorgegangen wird und wenn geeignete Methoden genutzt werden. Das ist das Vorgehen, das an den Hochschulen immer und immer wieder geübt wird. Ebenso ist die Lernfähigkeit eine notwendige Bedingung für einen akademischen Abschluss. Sich mit Hilfe einschlägiger Literatur, professionell geführten Gesprächen oder detailtreuen Beobachtungen in neue Themen einzuarbeiten und dazuzulernen, liegt im Wesen der akademischen Ausbildung. Schliesslich wissen wir aus der Kreativitätsforschung, dass Kreativität nur entstehen kann, wenn Expertenwissen vorhanden ist, das – nicht ausschliesslich – aber auch über einschlägige wissenschaftliche Literatur erworben wird. Wer heute in die digitale Zukunft investieren will, muss auch in die Akademisierung – und die damit verbundenen Kompetenzen – investieren.

Nach diesen Gedanken frage ich mich, wo die Gefahr der «Akademisierung» in der Berufsbildung ist. Ist es nicht die zunehmende «Vocationalisierung» der Hochschulen, die die Hochschule zu veritablen Substituten der Berufsbildung macht. Jedes akademische Fach und jede akademische Berufsbildung weist heute auf die Berufsfelder und Karrieren ihrer Absolvierenden oder auf die Praxisorientierung ihrer Ausbildung hin. Und jede Forschung weist heute ihre Wirkung auf die Wirtschaft und Gesellschaft aus, und versucht ihren «Time-to-Market» so kurz wie möglich zu halten. Die zunehmenden Studierendenzahlen an Hochschulen dürfen durchaus dahingehend gedeutet werden, dass die vocationalisierten Hochschulen für viele leistungsstarke Jugendliche an Attraktivität gewonnen haben. Denn eine Hochschulbildung kann sowohl hoch «vocational» und hoch «akademisch» sein. Das sind zwei Eigenschaften, die sich nicht gegenseitig ausschliessen, wie immer wieder behauptet wird.

Prof. Dr. Jürg ArpagausPH Luzern

Twitter: @juergarpagaus

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