Zwischen Förderung und Berufseignungsselektion

Der pädagogische Auftrag der Berufsfachschullehrperson ist es, die Lernenden hin zu eigenständigen und verantwortungsvollen Berufsleuten zu führen. Dabei stehen sie manchmal vor dem Dilemma zwischen Fördern und Selektion. Was macht eine Lehrperson, wenn Lernende schulisch nicht genügen?

An den Berufsfachschulen erarbeiten die Lernenden die theoretischen Grundlagen, die sie zur Berufsausübung benötigen. Zudem werden sie  von Berufsfachschullehrpersonen  in der Entfaltung ihre Persönlichkeit und Sozialkompetenz gefördert. Bei der Ausbildung an den Berufsfachschulen werden unterschiedliche Begabungen berücksichtigt und mit speziellen Massnahmen unterstützt, so dass die Lernenden nach ihrer beruflichen Grundbildung als kompetente Berufsleute auf den Arbeitsmarkt treten können.

Die Berufsfachschullehrpersonen mit ihrem pädagogischen Auftrag führen Prüfungen zur Diagnose des Lernstandes und Lernerfolgsentwicklung durch. Diese Kompetenzerfassung innerhalb der beruflichen Bildungsprozesse kann Stärken und Defizite zutage führen. Was macht nun eine Lehrperson, wenn die Defizite gross und eine adäquate Berufsausübung aus schulischer Sicht kaum möglich ist?

Möglichkeiten und Grenzen der Förderung

Den Berufsfachschullehrpersonen stehen auch für schulisch schwache Lernende formale und informelle Förderinstrumente zur Verfügung. Beispielsweise können zur Unterstützung allgemeine und berufsspezifische Stützkurse, frei zugängliche Online-Kurse (z.B. Khan Academy) für Mathematik, Elektrotechnik, Deutsch usw.) sowie für Lernende der zweijährigen Grundbildung (EBA), zusätzlich die fachkundige individuelle Begleitung (FiB) genutzt werden.  Aber auch mehr informelle Förderinstrumente können von den Berufsfachschullehrpersonen eingesetzt werden. Dazu gehört das Vermitteln von Lernstrategien, die Hinführung zum selbstgesteuerten Lernen, der Einsatz leistungsdifferenzierter Aufgaben- und Übungsblätter oder die Förderung im Unterricht durch das Schaffen von Lernsituationen, die zum Lesen, Schreiben oder Rechnen auffordern. Doch, was ist, wenn trotz der Unterstützung nicht der gewünschte Erfolg einkehrt oder aufgrund von Ressourcenknappheit an den Berufsfachschulen die Unterstützungs- und Förderinstrumente nicht zur Verfügung stehen?

Selektion: Praxis vor Schule

Berufsfachschullehrpersonen führen Prüfungen zur Leistungsdiagnose durch und benoten die Leistungen, die halbjährlich in den Zeugnissen ausgewiesen werden. Bei ungenügenden Leistungen können die Klassenlehrpersonen mit den Berufsbildungsverantwortlichen in den Betrieben (Lehrmeister/innen) nach Möglichkeiten weiterer Unterstützung, einem Stufenwechsel (von vier- in dreijährige oder von drei- in zweijährige EBA-Ausbildungen) oder einer Verlängerung der Lehrzeit suchen. Die Praxis zeigt, dass die Verantwortlichen der verschiedenen Lernorte sich nicht immer einig über die Massnahmen sind. Aufgrund des Vertragsverhältnisses zwischen den Betrieben und den Lernenden, haben die Berufsbildungsverantwortlichen der Betriebe in der Regel das letzte Wort. Sie haben die Tendenz, die schulisch schwachen Jugendlichen, ohne auffälliges Verhalten und Betragen, in der begonnenen Berufslehre zu behalten. Mit dem zunehmenden Rekrutierungs- und Besetzungsproblem von Lehrstellen werden sich diese Fälle häufen.

Früh und gemeinsam entscheiden

Für die Berufsfachschulen kann, die schulisch überforderten Lernenden in die oberen Lehrjahre mitzunehmen, zu einem Problem werden. Die unterlassene Selektion führt dazu, dass ein zu grosser Anteil der Lernenden dem Unterricht kaum mehr folgen oder stufen- oder leistungsgerecht in den Unterricht integriert werden kann. In den meisten Berufsfachschulen fehlen die notwendige sonderpädagogische Unterstützung und die personellen Ressourcen, um die schulisch Schwächsten zum erfolgreichen Lehrabschluss zu führen. Die Folge ist, dass die Jugendlichen ohne Abschluss einer beruflichen Grundbildung in den Arbeitsmarkt treten oder erst (zu) spät einen Berufswechsel vollziehen, was sowohl für die Betroffenen wie auch ökonomisch unerwünscht ist.

Aus Sicht der Berufsfachschullehrpersonen wäre eine gemeinsame Beurteilung und Entscheidung über den weiteren Lehrverlauf schulisch schwacher Jugendlicher vor Ende des ersten Lehrjahres wünschenswert. Dank dem durchlässigen und flexiblen Berufsbildungssystem stehen den Jugendlichen auch nach einem „Fehlstart“ in der beruflichen Grundbildung später noch alle Wege offen.

Prof. Dr. Jürg H. Arpagaus, Prorektor, PH Luzern

 

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