Lernortkooperation – ein Asset für die Berufsfachschulen

Das duale oder triale Berufsbildungssystem mit der Kompetenzorientierung ist aus didaktischer Sicht auf Lernortkooperationen angewiesen. Die Forderung nach Lernortkooperation ist schnell formuliert. Doch mit welchen Problemen und Hürden haben die Berufsbildungsverantwortlichen zu kämpfen, wenn sie die Lernortkooperation zum festen Bestandteil ihrer Ausbilder/innentätigkeit machen wollen?

Die „duale“ Berufsbildung in der Schweiz kennt im Wesentlichen drei Lernorte: den Betrieb, die Berufsfachschule und die überbetrieblichen Kurse. Jeder Lernort bildet Lernende gemäss Bildungsplan nach seiner inneren Funktionslogik aus. In den Betrieben werden die Lernenden einerseits befähigt, die praktischen Tätigkeiten ihres Berufs auszuüben und das an den Berufsfachschulen theoretisch Gelernte umzusetzen. Anderseits finden in den Betrieben die berufsspezifische Sozialisation der Jugendlichen sowie ihre Integration in das berufliche Erwerbsleben statt. Mit den überbetrieblichen Kursen wird sichergestellt, dass alle Lernenden die für die Branche zentralen, branchenspezifischen Qualifikationen erlangen. In den Berufsfachschulen erhalten die Lernenden die theoretischen Grundlagen, welche ihr Handeln begründen und leiten sollen. Dass diese triale Ausbildung hervorragende Berufsleute hervorbringt, zeigen sowohl sie Leistungen an den SwissSkills bzw. WorldSkills, wie auch die erfreulich hohen Übertrittsquoten nach der beruflichen Grundbildung in den Arbeitsmarkt bzw. in die weiterführenden Ausbildungen auf Tertiärstufe.

Drei Logiken, ein Prozess

Dennoch dürfen diese guten Ergebnisse nicht darüber hinweg täuschen, dass separierte Lernorte auch Schwierigkeiten mit sich bringen, die es zu lösen gilt. Die offensichtlichste Gefahr von drei separierten Lernorten besteht darin, dass zwar die drei Lernorte in ihrer Ausbildungslogik ausgezeichnete Arbeit leisten, sich jedoch im Verbund nicht optimal ergänzen. Das heisst, die Verzahnung von Theorie und Praxis ist suboptimal umgesetzt oder die schulischen Inhalte sind nicht auf authentische Praxisprobleme ausgerichtet. Um diese Probleme zu lösen, wird die Lernortkooperation postuliert. Die Lernortkooperation zielt darauf ab, einen einzigen handlungs- und transferorientierten Lehr-Lern-Prozess über die Ausbildung und ihre Lernorte zu legen. Die Lernenden sollen die betrieblichen, überbetrieblichen und theoretischen Elemente ihrer Ausbildung als integrale Bestandteile ihres Lernprozesses erleben. Dieser hehre Anspruch ist im Alltag nicht immer einfach umzusetzen.

Von der „good practice“ zur eigenen Praxis

Ein Blick in die Literatur und Praxis (z.B. KOLIBRI, 2004) zeigt, dass Lernortkooperationen oft im Rahmen von spezifischen Projekten umgesetzt werden. Auch wenn einmalige Projekte nur eine beschränkte Nachhaltigkeit aufweisen, bilden sie als gut dokumentierte „good oder best practices“ eine ausgezeichnete Grundlage für Berufsbildungsverantwortliche, eigene Lernortkooperatiosprojekte zu starten. Interessant wäre es, eine Onlineplattform verfügbar zu haben, die eine Sammlung von dokumentierten Lernortkooperationsprojekten, von Links zu (laufenden) Projekten sowie Materialien wie Checklisten usw. umfasst, so dass die Hürden für Berufsbildungsverantwortliche, Lernortkooperationen einzugehen, gesenkt würden.

Das weite Feld der Lernortkooperation

Lernortkooperation wäre aber falsch verstanden, wenn sie nur als umfassende Projekte aufgefasst würde. Wenn Berufsfachschullehrpersonen ihren Unterricht mit Lernortkooperationen anreichern wollen, dann hilft die Unterscheidung in (a) reinen Informationsaustausch, (b) Koordinationsprojekte, (c) Kooperationsprojekte oder (d) Kollaborationsprojekte (vgl. Euler et al., 1999). Folgende Beispiele zeigen exemplarisch die grosse Bandbreite von Möglichkeiten der Lernortkooperation für Berufsbildungsverantwortliche:

  1. Der (in)formelle und institutionalisierte Informationsaustausch zwischen den Berufsfachschullehrpersonen und den Berufsbildnerinnen in den Betrieb wirkt sich einerseits auf die bildungspolitischen Zielsetzungen, wie etwa die regionale Ausgestaltung der schweizweit geregelten Ausbildung oder die Diffusion von Innovationen aus. Anderseits bilden Informationen die Grundlage für die Koordination.
  2. Die Koordination als abgestimmtes Nebeneinander verstanden, lässt erstens unerwünschte Überschneidungen in der Ausbildung vermeiden. Zweitens können aktuelle Themen des andern Lernorts aufgegriffen werden. Drittens wird ein binnendifferenzierter Unterricht möglich und viertens können auch (disziplinarische) Normen dank einer Koordination durchgesetzt werden.
  3. Kooperationen funktionieren nach dem Primat der Abstimmung. Das heisst, erstens stimmen Schulen und Betriebe die Theorie und die praktische Arbeit curricular ab. Kooperation heisst aber auch, dass gemeinsame Projekte durchgeführt, Aufgaben oder Aufträge des andern Lernorts in den eigenen Ausbildungsteil übernommen werden.
  4. Die intensivste Form der Lernortkooperation ist die Kollaboration, die nach dem Prinzip des Zusammenwirkens funktioniert. Bei der Kollaboration werden gemeinsame Ziele definiert, die nur in Zusammenarbeit erreicht werden können. Dank den „neuen“ Medien wird das kollaborative Lehren und Lernen über die verschiedenen Lernorte hinweg vereinfacht. Es sind Tools wie Weblogs, Wikis, Google Drive oder Google Docs – um nur einige zu nennen – die niederschwellige Kollaborationen zulassen.

Lernortkooperation als Asset der Berufsfachschule

Lernortkooperationen sind strukturell in der dualen Berufsbildung in der Schweiz nicht verankert und deshalb auf die Initiative Einzelner angewiesen. Eine noch wenig genutzte Perspektive ist, die Lernortkooperation als Asset der Berufsfachschule zu betrachten. Wenn beispielsweise die praktische Arbeit in den Betrieben als integraler Bestandteil der schulischen Ausbildung gedacht wird, eröffnen sich neue – pädagogisch erwünschte – Möglichkeiten, wie beispielsweise das Anknüpfen am (praktischen) Vorwissen, Erhöhung der Motivation der Lernenden, ein binnendifferenzierter Unterricht oder die Reflexion des Gelernten. Das heisst aber auch, dass Lehrpersonen mit Heterogenität im Klassenzimmer, d.h. mit unterschiedlichen Themen und Fragestellungen, verschiedenen Lerngruppen und Arbeitsformen und der damit verbundenen Neugestaltung des Unterrichts einen adäquaten Umgang finden müssen. Künftig werden sich entsprechend die Berufsfachschullehrpersonen nicht mehr nur durch ihre fachliche Kompetenz unterscheiden, sondern vor allem durch ihre Fähigkeiten, den Unterricht so zu gestalten, dass die Potentiale von Lernortkooperationen für alle Lernenden ausgeschöpft werden.

Prof. Dr. Jürg H. Arpagaus, Prorektor, PH Luzern

 

2 Kommentare zu “Lernortkooperation – ein Asset für die Berufsfachschulen

  1. Im Artikel von Arpagaus „Lernortkooperation – ein Asset für die Berufsfachschulen“
    (26.10.2015) wird beschrieben, dass die Lernortkooperation in der dualen Berufsbildung noch wenig verankert ist. Einzelne Lernorte sind gefordert diese zu verstärken. Weiter schreibt Arpagaus, dass die Erfahrungen der praktischen Tätigkeit in der Berufsfachschule integriert und eng mit der Theorie verknüpft werden sollen.

    Die Nationale Dach – Organisation der Arbeitswelt Gesundheit (OdaSanté) koordiniert mit dem Ausbildungshandbuch des Berufes Fachfrau/Fachmann Gesundheit EFZ die Grundlagen an allen drei Lernorten Praxis, überbetriebliche Kurse, und Berufsfachschule. Das Ausbildungshandbuch unterstützt Lernende und Ausbildende, einen guten Überblick über den Aufbau und die Inhalte der Ausbildung zu bekommen.

    Unsere Erfahrung zeigt, dass die Theorien an der Berufsfachschule bereits stark mit der praktischen Tätigkeit verknüpft werden. Die Bildungsverordnung und der Bildungsplan sind nach dem Kompetenzen-Ressourcen-Modell (Ko-Re-Methode) aufgebaut. Die Methode geht davon aus, dass über die Kombination und Verbindung von verschiedenen Ressourcen das Potential entsteht, eine Anforderung zu erfüllen.
    Der zu behandelnde Lerngegenstand deckt sich mit den entsprechenden Lehr- und Lernaktivitäten. Der didaktische Doppeldecker bezeichnet die Kombination von Konzepten, Theorien und deren Präsentation. Dahinter versteckt sich die Absicht, Lernprozesse nachhaltiger zu gestalten, da sie in den Erfahrungen verankert sind.

    Damit Lehr- und Lernprozesse an der Berufsfachschule sinnvoll gestaltet werden können, muss neben fachlichen Kompetenzen auch die didaktische Kompetenz berücksichtigt werden. Das Konzept der didaktischen Reduktion hilft Lehrkräften bei der Planung und Durchführung. Es gilt vor allem die didaktische Vorgehensweise nach Wagenschein.

     Gründlichkeit
    Nach diesem Grundsatz wird der Fokus auf das Wesentliche des Stoffes gelegt. Es geht um den fachlichen Kern, das zentrale Anliegen. Wer gründlich lehrt, setzt darum auf exemplarisches Lernen und einprägsame und übertragbare Prototypen wie
    Arbeiten mit Fallbeispielen, Rollenspiele…

    Fazit
    Für die Schulpraxis heisst dies, sich auf auf relevante Inhalte und Kernbotschaften konzentrieren. Kernessenz wird mit praktischen Ansätzen verknüpft und somit als didaktischer Doppeldecker genutzt.

  2. Lernortkooperation oder der Betrieb als Gegner…

    Der Artikel von Jürg Arpagaus gefällt. Die Lernortkooperation wäre ein Idealfall und zeigt einen Soll-Zustand. Nichts tönt besser als eine gute Theorie. Wie sieht es mit dem momentanen Ist-Zustand in unserem Fachbereich Lehrberuf Koch aus? 2013 absolvierten die ersten Lernenden ihr QV nach der 2010 in Kraft gesetzten BIVO. Der BIBPLA wurde optimal auf die drei Lernorte oder besser formuliert «Kooperationsorte» abgestimmt. Die wichtigste Neuerung bestand aus dem Einführen von Prozessschritten anstelle von Fächern. Das Modell der Prozessschritte ist beinahe revolutionär punkto Koordination mit dem Lehrbetrieb. In der neuen Lern- und Leistungsdokumentation wurde der gesamte Modelllehrgang für alle sechs Semester auf einen Blick überschaubar. Der «Kooperationsort» Betrieb bräuchte nur noch für erreichte Ausbildungsziele ein Häkchen zu setzen.
    Wie sieht es in der Realität aus?

    Der neue BIPLA führt und begleitet die adoleszierenden, suchenden Jugendlichen. Er schützt und unterstützt den Ausbildungsbetrieb, gewährleistet eine qualitative solide Grundausbildung. Er erweitert Kompetenzen in allen Richtungen und fördert die Persönlichkeit. Die ernsthafte Umsetzung dieser Ausbildung bedeutet einen wichtigen Imagegewinn, quasi ein Facelift für den Kochberuf und die ganze Branche. Motto: «Kochen ist geil».

    Fünf Jahre später stellen wir bei einem hohen Anteil der Betriebe fest:

    1. Noch immer sind Lernende eineinhalb Jahre mit dem Rüsten von Salaten und Anrichten von Dessertcoupes beschäftigt, während der Schulunterricht und ÜK- Programm an ihnen vorbeizieht.
    2. Viele Betriebe sind festgefahren und nehmen den neuen Modelllehrgang nicht zur Kenntnis.
    3. Traurigerweise entsteht «Kooperation» erst bei Schul- und ÜK Problemen.
    4. Die Qualität der Ausbildner können viele Betriebe nicht gewährleisten. Teils entspricht der fachliche Hintergrund nicht «eidgenössischem» Standard.
    5. Die Fluktuation an Ausbildnern und Umfeld ist hoch.
    6. Lernende sind immer noch billige Arbeitskräfte.
    7. Stufengerechte Probekochen werden nicht durchgeführt und schon gar nicht dokumentiert.
    8. Betrieben fehlen wichtige Basics wie Produkte, Garmethoden, Techniken einen Lernenden auszubilden.

    Fazit:
    Beim Lehrberuf Koch ist der Betrieb das grösste Hindernis bei der Lernortkooperation.

    Lösung?
    Nicht in Sicht…hoffnungslos…Lehraufsicht zahnlos… politisch heikel.
    Wie können wir Betriebe zum Umdenken bewegen?
    Rating der Kooperationsorte durch die Lernenden selbst plus Rating der Schule?
    Kritik an Lehrbetrieben wird auf der persönlichen statt Sachebene ausgetragen. Trotzreaktionen «Dann bilden wir gar nicht mehr aus», sind zu befürchten.

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