Megatrend Individualisierung – Auswirkungen auf Aus- und Weiterbildung

«Individuell bemerkenswert» hat sich unsere Kooperationspartnerin Akademie für Erwachsenenbildung Schweiz (aeB Schweiz) auf die Fahne geschrieben. Sie reagiert damit offensichtlich auf einen Megatrend des 21. Jahrhunderts: die Individualisierung (SIB, 2013). In diesem Blogbeitrag geht es auf Spurensuche: Wie lässt sich der Begriff «Individualisierung» in der Soziologie einordnen? Welche Treiber hat die Individualisierung im Kontext von Bildungsorganisationen? Und welche Konsequenzen? Zudem wird aufgezeigt, welche Antworten auf diesen Megatrend die PH Luzern und die aeB Schweiz in ihren Kooperationsangeboten bereits entwickelt haben.

Prozess des Raus und Rein – soziologische Perspektive

Individualisierung ist ein grosser und vielfältig verwendeter Begriff, für den auch die Soziologie keine einheitliche Definition hat (Kron & Horácek, 2015). Trotzdem machen wir, um die Individualisierung in einer grösseren Dimension zu betrachten, einen kurzen Exkurs dorthin.

Die Soziologen Kron und Horácek (2015) gehen in ihrer Einführung zur Individualisierung davon aus, dass bei allen Arten von Individualisierung und in allen Individualisierungsdiskursen ein einziger Grundprozess wirkt oder dahinterliegt: der «Prozess des Raus und Rein». Einfach erklärt bedeutet dies, dass das Individuum in einem Individualisierungsprozess immer zuerst aus einem sozialen Kontext herauskommt. Gleichzeitig wird es jedoch unweigerlich und zum Teil auch unwissentlich in einen neuen sozialen Kontext eingebettet. Nach Kron und Horácek (2015) sind bei den verschiedenen Individualisierungsprozessen folglich nur die Zeitabschnitte, die räumlichen Variationen, die sozialen und sachlichen Bedingungen unterschiedlich. Der Grundprozess bleibt soziologisch betrachtet der Gleiche: raus und rein.

Kehren wir zurück zu unserem Kontext Aus- und Weiterbildung sowie zur Bildungsorganisation als Mesoebene des Geschehens. Welche kulturellen und strukturellen Veränderungen können als Treiber der Individualisierung in der Bildung angesehen werden? Und welche Konsequenzen folgen daraus für Bildungsorganisationen?

Individualisierung im Kontext von Bildungsorganisationen

 Bezüglich kultureller Veränderungen erklärt das Zukunftsinstitut (o.J.a), dass die individuellen Wahlmöglichkeiten zu einem zentralen Prinzip unserer westlichen Kultur geworden sind und unsere Wertesysteme, Konsummuster sowie unsere Alltagskultur beeinflussen. Daraus folgt für Bildungsorganisationen, dass auch in Aus- und Weiterbildungen die Teilnehmenden eine möglichst freie Wahl in allen Dimensionen der Lernveranstaltungen (Inhalte, Ziele, Zeiten, Dozierende, Lernformen, usw.) erwarten sowie auch einfordern oder indirekt mit Unzufriedenheit auf den Mangel an Wahlmöglichkeiten reagieren.

Zu einer grossen strukturellen Veränderung im Bildungssystem hat in der Schweiz die Bologna-Reform geführt. Mit dem Ziel, die Mobilität und die Wettbewerbsfähigkeit des Bildungsstandorts Europa zu stärken, wurden unter anderem ein Leistungspunktesystem, besser bekannt als ECTS-Punktesystem, sowie das zweistufige Bachelor/Master-System für Studienabschlüsse eingeführt (SBFI, o.J.). Damit wurden im Schweizer Bildungssystem die Grundlagen für eine erhöhte Durchlässigkeit und daraus folgend für eine erhöhte Individualisierung der Bildungsbiografien geschaffen. Das Zukunftsinstitut (o.J.b) nennt dies globaler eine aufgrund der Individualisierung enorme Ausdifferenzierung von Lebenskonzepten und Karrieren.

Bildungsorganisationen müssen folglich auf die Individualisierung der Biografien ihrer Teilnehmenden reagieren. Denn die potenziellen Teilnehmenden wählen die Angebote aus, die zu ihrer Biografie und aktuellen Lebenssituation passen (Tippelt, 1994). Für Bildungsorganisationen bedeutet dies, trotz ECTS-Punktesystem, immer komplexere Zulassungsprüfungen sowie zunehmend heterogene Teilnehmendengruppen. Für Lernveranstaltungen bestehen diverse Differenzierungs- und Individualisierungskonzepte (Riedl & Schelten, 2013). Häufig trifft man in diesem Zusammenhang auch auf den Begriff der Binnendifferenzierung und damit auf praktische Konsequenzen für Lernveranstaltungen mit heterogenen Gruppen (siehe z.B. wb-web, o.J.).

In diesem Zusammenhang lohnt es sich für Bildungsorganisationen, auch das Feld der adaptiven tutoriellen Systeme im Blick zu halten. Diese technischen Systeme erlauben eine wirksame 1:1 Lernbegleitung, auch von grossen Lerngruppen, und sind wirtschaftlich interessant sowie stark in Entwicklung (Meier, 2016).

Im Weiteren interessieren jedoch weniger diese didaktischen, methodischen und technischen Möglichkeiten der individualisierten Gestaltung von Lernveranstaltungen als viel mehr, welche organisationalen Strukturen von Aus- und Weiterbildungsstudiengängen aktuell geschaffen wurden, die den Trend der Individualisierung und die daraus entstandenen Bedürfnisse der Teilnehmenden aufnehmen.

Antworten aus der Praxis

 Vor gut einem Jahr haben wir den MAS in Adult and Professional Education in fünf CAS sowie ein Master-Modul umstrukturiert. Die Teilnehmenden wählen drei von fünf CAS aus und setzten so ihren eigenen Schwerpunkt der Ausbildung. Das Prinzip der Modularisierung ist für viele nichts Neues und bekannt. Neu hingegen ist der individualisierte Aufbau der einzelnen CAS-Studiengänge. Die Teilnehmenden arbeiten zum grössten Teil in kleinen Lern- und Arbeitsgruppen und sind somit in Zeit und Ort ihrer Gruppenarbeit flexibel. Die Gruppe bestimmt individuelle Schwerpunkte und «bestellt» die Dozierenden entsprechend der Bedürfnisse der Gruppe und der Individuen. Während den wenigen Plenumsveranstaltungen werden die Grundlagen für die Arbeit in den Lern- und Arbeitsgruppen erarbeitet sowie die Rahmenbedingungen geklärt. Für die Teilnehmenden bedeutet das neue Modell: Raus aus einer passiven Lernhaltung und rein in ein aktives, selbstbestimmtes und kooperatives Lernen, das nachhaltiger, autonomer und lustvoller ist!

Bereits Siebert (1994) weist darauf hin, dass die Soziologie aufgrund der durch die Individualisierung verursachten Erweiterung der Wahlmöglichkeiten mehr Verunsicherung sowie mehr Identitätskrisen registriert. In den Kooperationsangeboten reagieren wir darauf mit ausführlichen und persönlichen Beratungen im Vorfeld der Aus- und Weiterbildungen sowie dem Studiengangsleitungs-Konzept. Das bedeutet, dass jeweils eine Person die Verantwortung für den CAS- oder MAS-Studiengang trägt. Dazu gehört, dass die Person während des gesamten Studiengangs für die persönlichen Anliegen der Teilnehmenden zur Verfügung steht und die individuelle Entwicklung der Teilnehmenden im Auge hat.

«Individuell bemerkenswert» ist folglich nicht nur Claim unserer Kooperationspartnerin sowie Reaktion auf einen Megatrend des 21. Jahrhunderts, sondern ist in den Kooperationsangeboten der aeB Schweiz und der PH Luzern aktiv zu erleben.

Literatur

Kron, T. & Horácek, M. (2015). Individualisierung. Einsichten. Themen der Soziologie. Bielefeld: Transcript.

Meier, C. (08.09.2016). Digitalisierung von Lernen: adaptive tutorielle Systeme [Blog]. Abgerufen am 04.01.2019 von https://www.scil-blog.ch/blog/2016/09/08/digitalisierung-von-lernen-adaptive-tutorielle-systeme/

Riedel, A. & Schelten, A. (2013). Grundbegriffe der Pädagogik und Didaktik beruflicher Bildung. Stuttgart: Franz Steiner Verlag.

SBFI Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (o.J.). Bologna-Prozess. Abgerufen am 04.01.2019 von https://www.sbfi.admin.ch/sbfi/de/home/hs/hochschulen/bologna-prozess.html

SIB Schweizerisches Institut für Betriebsökonomie (2013). Die Zukunft der Führung. Eine Trendstudie. Zürich: Sonderegger Druck AG.

Siebert, H. (1994). Erwachsenenbildung in der Bundesrepublik Deutschland – Alte Bundesländer und neue Bundesländer. In Tippelt, R. (Hrsg.), Handbuch der Erwachsenenbildung (S. 52 – 79). Opladen: Leske +Budrich.

Tippelt, R. (1994). Handbuch der Erwachsenenbildung. Opladen: Leske +Budrich.

Wb-web (o.J.). Binnendifferenzierung. Abgerufen am 03.12.2018 von https://wb-web.de/wissen/lehren-lernen/binnendifferenzierung-1.html

Zukunftsinstitut (o.J.a). Megatrend Individualisierung. Abgerufen am 04.01.2019 von https://www.zukunftsinstitut.de/dossier/megatrend-individualisierung/

Zukunftsinstitut (o.J.b). Die Individualisierung der Welt. Abgerufen am 04.01.2019 von https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/die-individualisierung-der-welt/

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