Aussetzer – von Lutz Hübner

Die Villmerger Oberstufenschülerinnen und Schüler verlassen den Sternensaal in Wohlen. Sie waren ein aufmerksames Publikum an diesem 21. November. Sie hielten 80 Minuten durch. Ich bleibe noch ein bisschen und fange an zu verarbeiten. Das Stück hat mich aufgewühlt und erschüttert: Schwerverdauliche Theaterkost! Viele Fragen stehen im Raum: Ist das ein Stück für Jugendliche ab 13 Jahren? Ist es nicht eher ein Stück für Lehrerinnen und Lehrer? Zu hoffen ist, dass die offensichtlich beeindruckten Schülerinnen und Schüler in ihren Klassen die Gelegenheit bekommen über das Erlebte zu reden, die Eindrücke zu sammeln, aufzuarbeiten und einzuordnen.

Die Story ist schnell erzählt: Ein Schüler schlägt seine Lehrerin nieder. Diese verheimlicht den Vorfall, verzichtet auf eine Anzeige und gibt dem Schüler eine zweite Chance.

Weshalb schlägt Chris die Lehrerin nieder? Welche Motive bewegen die Lehrerin, ihrem schlimmsten Schüler eine zweite Chance zu geben?

Aussetzer

Anja Tobler und Gabor Nemeth vom Theater Bilitz spielen unter der Regie von Agnes Caduff diese Stück über Druck und Gegendruck ab 13 Jahren.

Während 80 Minuten hören und schauen wir zu, wie zwei überforderte Menschen immer wieder Fehlentscheidungen treffen. In Monologen richten sich der 17-jährige Schüler Chris und die 30-jährige Lehrerin Frau Stöhr direkt ans Publikum und versuchen Verständnis für ihr Handeln zu bekommen. Dazwischen erleben wir die beiden in Spielsituationen. Das Publikum erfährt auf diese Weise ganz viel über das Innenleben der beiden. Man hofft die ganze Zeit, dass es gut herauskommt. Man hofft vergebens. Chris und Frau Stöhr scheinen Gefangene eines Systems zu sein. Wer ist Täter? Wer ist Opfer? Im Stück taucht keine Figur auf, welche die Eskalation hätte stoppen können. Eine Aussensicht hat nur das Publikum und dieses wird am Schluss alleine gelassen.

Gespielt wird auf einer Bühne, die mit stapelbaren Stühlen, wie man sie in jeder Aula antrifft, ausgerüstet ist. Damit wird gespielt. Durch Umgruppieren entstehen die verschiedenen Räume und Stimmungen. Drei unterschiedlich grosse Stellwände begrenzen den Raum nach hinten. Das ermöglicht den Figuren auf- und abzutreten. Die Befindlichkeiten und die Gedanken von Chris werden ab und zu in Projektionen auf den drei Stellwänden visualisiert. Die perkussive Musik, die an Herzklopfen und Wegrennen erinnert, verstärkt die Emotionen.

Endlich verlasse auch ich den Sternensaal in Wohlen. Draussen fällt der erste Schnee in diesem Winter. Ich bin froh, dass ich einen Kollegen treffe, der sich das Stück auch angeschaut hat. Bis der Zug losfährt, haben wir Zeit uns auszutauschen. Wir reden über das System Schule und ihre Funktion und fragen uns, ob unsere Schule erreicht, was sie gerne erreichen möchte.

Soll dieses Stück unseren Schülerinnen und Schülern gezeigt werden? Erreichen wir dadurch eine positive Auseinandersetzung mit dem Thema «Gewalt»? Oder sollen wir wegschauen und den unangenehmen Fragen aus dem Weg gehen? Sollen es Stücke sein, die angenehmere Fragen stellen? Fragen, welche zu Antworten führen, die Perspektiven eröffnen und hoffen lassen? Die greifbare Aufmerksamkeit des jugendlichen Publikums an diesem 21. November zeigte deutlich: Da geschieht etwas auf der Bühne, das nicht kalt lässt.

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